An einem Samstag Mitte März verließen wir Berlin in nordwestliche Richtung. Berlin, die Stadt und das Bundesland, enden mit der Ortsgrenze und man fällt aus dem realen Leben ins Nirgendwo. Für ein Auge, das viele Jahre den Blick auf die Alpen gewöhnt war, könnte die flache Weite Brandenburgs karg und leer wirken. Doch sie hat etwas unverstelltes, und gleichzeitig beruhigendes, weil sie alles von sich offen legt und keine Ungewissheit hinter Hügeln versteckt oder Erwartungen schürt, indem sie vor etwas vielleicht noch Kommendes lange Bergketten schiebt. Was es gibt, sieht man offen vor sich und was man nicht sieht, gibt es auch nicht.
Mit Berlin im Rücken und dem Horizont im Blick fuhren wir an dem Tag also Richtung Fehrbellin zu Minnas Schafen.

Minnas Schafe leben nahe Fehrbellin bei einer Schäferei. Und was sie (leider) besonders macht, ist dass sie einfach Schafe sein dürfen. Sie sind die sogenannte „Pensionsherde“ dort und ihr Dasein besteht im Schafsein. Was einmal die Schulschafe der Lenau-Grundschule in Kreuzberg waren, sind jetzt die Pensionsschafe von Minna und einiger Schaf-Patinnen. Bis 2008 und damit über 25 Jahre gab es an der Grundschule nahe dem Bergmannkiez Schafe. Was Anfang der 80er ein Projekt in Zusammenarbeit mit der FU Berlin gewesen war, um türkischen Kindern in Berlin durch die Schafe etwas Vertrautes in ihr schulisches Umfeld zu bringen, wurde gut zehn Jahre später, als die Schulleitung die Schafe nicht mehr an der Schule haben wollte, ein Projekt von Minna und sechs weiteren Lehrerinnen dort, die sich für den Verbleib der Tiere an der Schule einsetzten. Heute, über dreißig Jahre nachdem das erste Schaf an die Lenau-Schule gekommen war, gibt es dort schon lange keine Schafe mehr. Seit 2008 leben die „Lenauer“ nun schon in Brandenburg. Aus der ehemaligen Schulherde sind noch vier dabei, doch Schafe, die Hilfe brauchen, gibt es leider viele und daher zählt die Pensionsherde aktuell 16 wo(h)llig glückliche Schafsköpfchen.





Wie eingangs angedeutet, dürfen Minnas Schafe einfach Schafe sein. Sie haben Glück und den Sprung über den Zaun geschafft, der in den Köpfen sehr vieler Menschen die Nutztiere von den Haus- und Streicheltieren trennt. Gleichgültig gegenüber der Tiere zu sein, die „man“ isst, bewahrt das eigene Gewissen rein. Dass Nutz- und Haustiere aber letztlich rein gar nichts voneinander unterscheidet und diese Trennung einzig die Einstellung und Sichtweise des Betrachters vollzieht, zeigt sich auch in der Schäferei, in der die Pensionsherde eine sichere Bleibe gefunden hat: Auf der anderen Seite des angesprochenen Zauns nämlich, werden Schafe gezüchtet und „verwertet“. Als wir im März den Schafbesuch machten, war gerade Ablammzeit, das heißt die Muttertiere hatten Lämmer. Wir durften in den kleinen Stall gehen und uns die jungen Tiere ansehen. Eines war erst wenige Minuten alt, stand aber schon auf seinen wackeligen Beinchen, während die Mutter seine krausig dichten Wolllöckchen sauber leckte. Ein paar andere Lämmer waren schon etwas älter, teils flink im Stall unterwegs und reckten vorwitzig und neugierig die Nasen nach uns, den Besuchern. Den Augen der Mütter entging aber nichts. Auch als wir Karottenstücke und hartes Brot fütterten, hatte ich den Eindruck, stets Vorsicht und eine Spur Misstrauen in ihnen zu sehen. Vielleicht wäre mir das gar nicht aufgefallen, hätte die unbedarfte Aufgeschlossenheit der Lämmer nicht in so starkem Kontrast zu der Haltung der Muttertiere gestanden. Eine Mutter ist natürlich immer auf der Hut, wenn es um die Sicherheit ihrer Kinder geht, doch würde ich meinen, dass sich eine Hündin, Stute oder Katze auch im Beisein von Menschen mit ihren Kindern weit entspannter geben kann, weil für sie vom Menschen keine Gefahr ausgeht.
Bei den Mutterschafen kam es mir jedenfalls so vor, als hätten sie sich vom Menschen abgewendet und zwischen ihm und sich einen Vorhang fallen lassen, der sie zwar nicht vollends schützen kann, sie aber gleichzeitig davor bewahrt, sich ohne Vorbehalte zeigen zu müssen. Etwas ähnliches muss beim Menschen passieren: „Wenn man von den Tieren lebt“, sagt Minna dazu, dann „kann man sich ihnen gegenüber als Mensch nicht so rückhaltlos öffnen. Man würde ihr Vertrauen missbrauchen. Das spüren sie. Daher bleiben sie mehr bei sich […].“



Noch stärker wurde mir die Verschlossenheit der Mutterschafe bewusst, als ich dann die Tiere der Pensionsherde traf. Weil wir als Fremde dabei waren, zeigten sie sich erst etwas zurückhaltend, aber dennoch neugierig und aufgeschlossen, als wir die Weide betraten. Sie mussten Minna nur am Rand der Weide sehen und rufen hören, da trabten sie quer über die Wiese zu uns. Wir hatten bei der ersten Begegnung leere Hände und brachten später erst Knäckebrot mit, doch auch ohne gefüttert zu werden suchten viele der Schafe den Kontakt. Schnell waren wir umringt von wolligen Schafsrücken und fixiert von 16 Augenpaaren, die nicht etwa verschleiert oder misstrauisch waren, sondern weise und fragend. Wir trafen uns auf Augenhöhe.



Nach nur ein paar Minuten auf der Weide beginnt man schon, die Tiere und ihre verschiedenen Charakter- und Persönlichkeitszüge kennenzulernen. Es sind nicht einfach sechzehn Schafe, sondern sechzehn völlig verschiedene und individuelle Wesen. Eigentlich sollte das niemanden überraschen, denn dass in einer Gruppe von sechzehn Menschen keiner ist wie der andere, ist uns völlig klar. Doch – und damit sind wir zurück beim Thema Nutz- vs. Haustiere – werden erstere nicht als Individuen betrachtet, sondern als Gruppe, sie sind „Vieh“. Und was speziell den Nutztieren, Schafen wie Kühen, den schlechten Ruf einbrachte, dümmlich oder einfältig zu sein, ist wiederum Werk des Menschen, der „die intelligentesten und kreativsten über Jahrzehntausende konsequent ausgemerzt hat“, so Minna, denn so sind die Herden einfacher handhabbar. „Wer über den Zaun sprang und es den anderen noch vormachte, landete gleich im Kochtopf.“ Nicht so Philomena (*2016), sie ist auch Teil der Pensionsherde und durfte nach einem Sprung über den Zaun zu Minnas Schafen einfach dort bleiben. [Auch wenn das auf dem Foto unten Milli ist und nicht Philomena.]

Das bringt mich zu der Frage, wie es dazu kommst, dass die Pensionsherde wächst, denn gezüchtet wird selbstverständlich nicht in der Herde und die Jungs sind zeugungsunfähig oder kastriert. Schafe, die Hilfe brauchen, gibt es viele. Drillingslämmer zum Beispiel. Ein Mutterschaf hat nur genügend Milch für zwei. Kommt ein drittes Lamm zur Welt, muss es entweder mit der Flasche aufgezogen werden, bis es verkauft und geschlachtet werden kann oder es wird direkt getötet. Oder Mutterschafe, die wiederholt nicht tragen. Auch die werden geschlachtet. Letztendlich egal, weil die Nutztiere am Ende des Tages ohnehin alle unter dem Messer landen, die einen früher, die anderen später? Doch einen Unterschied macht jedes Tier, das ein Leben haben darf, welches in sich schon erfüllt ist und nicht erst wertvoll wird, wenn man es ver-werten kann.


Thilus zum Beispiel, blickt auf 15 Jahre Schafsein zurück. Er wurde mit der Flasche aufgezogen, doch statt zum Schlachter kam er an die Lenau-Schule und Jahre später schließlich mit nach Brandenburg, wo er Herdenältester ist. Er hat seine Augen überall, erzählt Minna und hält Wache. Als wir schon eine Weile auf der Weide sind und sich die anderen Schafe langsam wieder zerstreuen, begleitet uns Thilus und sucht weiter den Kontakt. Flaschenlämmchen haben eine tiefere Bindung zum Menschen. Umso traumatischer ist es für sie, wenn sie dann verkauft werden. Thilus, so beobachtet Minna, wirkt noch heute oft melancholisch, als habe er es nie ganz verwunden, weggegeben worden zu sein. Wie gut für ihn, denke ich mir, dass er gar nicht weiß, was am Ende des anderen Weges auf ihn gewartet hätte. Und tragisch gleichzeitig, dass er sich trotzdem verstoßen fühlt.

Auch der heute neunjährige Petit Criü bekam durch die Aufnahme in die Pensionsherde eine Chance. Minna hatte beobachtet, dass er in der anderen Herde immer abseits stand und wirkte, als fühlte er sich fehl am Platz. Sie sagt: „Ich nahm ihn, weil ich wollte, dass er merkt wozu er auf der Welt ist.“
In Minnas Herde lernen die Schafe, dass sie nichts müssen und niemandem etwas schuldig sind – dass Schafsein ein vollkommenes Dasein ist. Und das ist gut für die Seele. Für die der Schafe und die eigene. Die Stunden mit den Schafen waren wie Therapie. Sie treten einem vorurteilsfrei gegenüber und sind bereit, Vertrauen zu schenken. Gleichzeitig fordern sie nichts und suchen nicht nach Bestätigung. Es sind keine gebrochenen Tiere, sondern sich selbst genügende Wesen, die den Menschen als Freund in ihr Leben zu lassen.


Liebe @marylebow!
AntwortenLöschenPaulchen, Thilus, Milli, Fläumchen-Agathe, Philomena, Cognac, Pony, Petit-Criü, Mecki, Timo-der Erwählte, die Schmusetante, Barbara, Nayala, Herr Weiss, Linda-Julia und Herr Weiss haben mich beauftragt, Dir mitzuteilen, dass sie sich wahnsinnig geehrt und ernst genommen fühlen und sie lassen Dich durch mich grüßen und sie können sich gar nicht satt sehen an den schönen Bildern und: Komm doch mal wieder, sagen sie.
Liebe Grüße Minna
Menno. Herr Weiss hat sich mal wieder vorgedrängelt, wie es so seine Art ist, aber Hugo wollte auch seine Meinung dazugeben. Hugo schließt sich hiermit der Gang an und grüßt Dich mit einem herzlichen Määäh! Minna
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